Was wollen die Autofahrer noch alles?
Berlin wählt und ein großes Wahlkampfthema ist die aktuelle Fahrradpolitik. Die Initiative vom Volksentscheid Fahrrad hat neuen Wind in verstaubte Verkehrsplanbüros gebracht. Doch der Unmut der etablierten Parteien ist groß. Fahrradpolitik, das war bisher doch nur“Gedöns“. Muß man sich jetzt darum auch noch kümmern?
Was wäre, wenn…. ja, was wäre wenn die Geschichte des Individualverkehrs eine andere Entwicklung genommen hätte? Wenn nicht das Auto, sondern das Fahrrad das dominierende Verkehrsmittel in Deutschland geworden wäre? Welche Argumente hätten die Autofahrer dann? Ein Gedankenspiel:
Ein Volksentscheid für Berlin
Berlin-Alexanderplatz, im Sommer 2016.
„Das ist ja eine Unverschämtheit!“ Tobias Metzler vom ADFC knallte eine druckfrische Zeitung auf den Konferenztisch des ADFC. Alle Augen der Vorstandmitglieder richteten sich auf ihn. Gerade stand die Etatplanung für das nächste Jahr auf dem Plan, was war so wichtig?
„Die Autofahrer wollen einen Volksentscheid, sie wollen mehr Platz für das Auto in der Stadt,“ schnaubte Metzler wütend. „So ein Quatsch, damit kommen die doch nie durch.“ entgegnete Sophie Markwardt lässig, erste Vorsitzende und Top-Lobbyistin in Sachen Fahrrad, „Darüber reden sie doch schon seit Jahren, aber wer will das schon? Nur ein paar verrückte Motorfreaks und Altnazis.“
Sie schaute gedankenvoll aus dem Fenster des 12-stöckigen Büroturms am Alexanderplatz, in das der ADFC vor 3 Jahren gezogen ist, weil das bisherige Gebäude zu klein geworden war. Unter ihr rollten Kolonnen von Radlern über die Strassen, ab und an sah man ein Auto eingekeilt langsam hinter den Fahrradfahrern her tuckeln. Berlin war Die Fahrradmetropole Der Welt, das würde sie sich von ein paar widersinnigen Autofahrern nicht kaputt machen lassen. Schon einmal wurde versucht, dem Fahrrad die Bedeutung zu nehmen, die ihm zustand. Während der Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war das Fahrrad ein Massenverkehrsmittel und die Autos führten noch ein Schattendasein. Doch dann wurde vom Naziregime 1934 die Radwegebenutzugspflicht eingeführt, um die Strassen für Autos frei zu machen. Radfahrer verbannte man von den Strassen und Autobahnen wurden gebaut, über die bald schon Panzer rollten. Wohin das führte, hatte man gesehen: Europa lag in Trümmern, unzählige Tote waren zu beklagen. Soweit durfte es nie wieder kommen.
Neue Wege für Deutschland – Fahrradwege
Zum Glück wurde nach dem Ende des 2. Weltkriegs beschlossen, alle Autostrassen und Autobahnen in Fahrradwege umzuwidmen. Die Menschen hatten nach dem Krieg sowieso keine Autos mehr und waren froh, die Wege für ihre Fahrräder zur Verfügung zu haben. Im Zuge der Entmilitarisierung wurden die Motorwerke und Rüstungsfabriken in Fahrradfabiken umgewandelt. Fahrräder von Mercedes und BMW genossen einen ausgezeichneten Ruf und wurden in die ganze Welt exportiert. Für den innerstädtischen Warentransport aktivierte und erweiterte die Stadt das alte Rohrpostnetz wieder. Ebenso wurde der öffentliche Nahverkehr ausgebaut und ebenfalls für den Transport von Waren und Schwerlasten genutzt. Die Alliierten förderten den Fahrradboom in Deutschland als einen friedlichen Weg nach der schrecklichen Vergangenheit des Landes. Während in den anderen Ländern der Welt Autos die Fahrräder allmählich verdrängten, baute Deutschland und insbesondere Berlin auf eine Verkehrspolitik, die sich am Menschen und nicht an den Maschinen orientierte.
Lange wurde dies von anderen Nationen belächelt. Doch im Zuge der zunehmenden Reisefreiheit sahen Menschen aus den USA, Großbritannien, Thailand und vielen anderen Ländern die Kinder in Deutschland gefahrlos auf den Strassen spielen, während sie in anderen Metropolen der Welt ängstlich von ihren Eltern festgehalten wurden. Das gesamte Strassennetz war extrem ökonomisch, da die Fahrräder die Strassen kaum abnutzten. Noch dazu hatte Deutschland den weltweit geringsten Anteil an übergewichtigen Menschen. Das alles waren Werte die sich sehen lassen konnten. Deutschland war das Vorzeigeland für eine nachhaltige Wirtschaftspolitik.
Berlin – Ecocity of the world
Inzwischen reisten Umweltbeauftragte aus der ganzen Welt nach Deutschland, insbesondere nach Berlin, um Inspiration für ihre zugebauten atemlosen Städte zu bekommen. In Zeiten des Klimawandels wurde der „sanfte“ Weg wie in Deutschland auch für andere Länder wieder interessant. In Berlin fand alle zwei Jahre der Weltfahrradgipfel statt, in dem Strategien besprochen wurden, um die ökologischste Fortbewegungsart auch in anderen Ländern weiter zu verbreiten. Und nun das: Die Autofahrer begehrten auf. Welch ein Desaster!
„Ja, aber stellt euch nur vor, was sie in der Öffentlichkeit damit anrichten könnten,“ sagte Friedhelm Wenzel, ein ruhiger älterer Mann, „ es gibt mittlerweile Autotouristen, die ihren Urlaub nur im Auto verbringen. Sie schlafen sogar darin und reisen herum, sehen, was in anderen Städten für den Autoverkehr möglich ist. Das bringt sie auf die Idee, solche Strassen auch für Berlin zu fordern.“
„Hm,“ überlegte Sophie Markwardt, „okay, zeig mal her, was die da so schreiben.“
Die Forderungen des Volksentscheid Auto
Tobias reichte ihr die Zeitung. „Mehr Auto für die Stadt“ stand dort in fetten Lettern, „Die Forderungen des Volksentscheid Auto hier bei uns.“ Sophie blätterte um und las: „Erste Forderung: 2000 km Autostrassen für Berlin, um schnell durch die Stadt zu kommen.“ „Wer soll denn das bezahlen?“ rief Brigitte Arndt, die resolute Finanzchefin vom ADFC und ausgebildete Steuerberaterin, „Das kostet doch ein Heidengeld.“ „Zweite Forderung: Die derzeitigen Fahrradschnellstrassen werden zu ihrer ehemaligen Nutzung zurückgeführt und werden wieder zu Autobahnen.“ Alle im Raum Anwesenden verfielen in Schnappatmung und redeten gleich darauf wild durcheinander.
„Ich bitte um Ruhe“, durchdrang Sophies tiefe Stimme die aufgeregte Gruppe, „wir werden uns doch hier nicht von einen Haufen nicht ernst zunehmender Blechbüchsenfahrer irre machen lassen. Das sind doch nur Forderungen. Das heißt doch noch gar nichts. Autofahrer sind immer noch eine Randgruppenerscheinung. Wir haben die Politik auf unserer Seite.“ Sie dachte an ihre letzte Radtour mit dem amtierenden Bürgermeister, bei der sie nebenbei über ein neues Großprojekt, die Überdachung aller Stadtfahrradbahnen gesprochen hatten. Das sollte im kommenden Jahr ausgeschrieben werden und Firmen auf der ganzen Welt standen schon Schlange dafür.
Sie las weiter: Dritte Forderung: „Vier Spuren für den Autoverkehr an allen Strassen, damit auch ein Überholen eines langsameren Autos gewährleistet ist.“ „Das schlägt doch dem Fass den Boden aus.“ schrie Tobias Metzler erregt. Er zitterte und zerknüllte das Papier, auf dem er sich Notizen gemacht hatte und warf es in den nächsten Mülleimer. „Immer mit der Ruhe, Tobi“, beruhigte Friedhelm ihn, „noch ist gar nichts entschieden. Wir werden mal eine Pressemitteilung als Antwort aufsetzen.“
„Vierte Forderung: Autoparkplätze an allen Strassen“, zitierte Sophie den Artikel. „Da wird sich der Berliner Einzelhandel aber höchst begeistert zeigen, wenn die Autos die Sicht auf ihre Geschäfte zuparken,“ bemerkte Brigitte Arndt ironisch, „so veröden ja alle Einkaufsstrassen. Bald hätten wir Zustände wie in den USA, wo die Innenstädte völlig langweilig sind.“
„Fünfte Forderung: Mehr…..“ „Bitte, es reicht, ich halte das echt nicht mehr aus,“ stöhnte Tobias, „lass uns einfach eine Antwort schreiben.“
Mehr Auto in der Stadt – völlig absurd
Sophie Markwardt lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich auf die Zeitung, die vor ihr lag. „Okay,“ sagte sie langsam, „wir setzen eine Pressemitteilung auf. Lass uns hier Ideen dafür sammeln.“ „Friedhelm,“ sie wandte sich an ihren langjährigen Kollegen, „kannst Du das dann bitte zusammenfassen, in Form bringen und abschicken?“ Er nickte und klappte sein Notebook auf.
„Also: Unsere Antwort auf den Volksentscheid Auto: Die Ziele des Volksentscheids Auto sind völlig unverhältnissmäßig und entsprechen in keinster Weise den Wünschen der Menschen nach einer schadstoffarmen, lebenswerten Stadt. Insbesondere die Fußgänger würden durch einen Erfolg der Initiative nicht benachteiligt, sondern sogar höchst gefährdet werden. Berlin hat weniger als 4 Verkehrstote im Jahr. Das ist einmalig in der ganzen Welt für eine Stadt dieser Größe. Die Zahl der Verkehrstoten würde mit einer einseitigen Förderung des Autoverkehrs explodieren, von den vielen Schwerverletzten und Traumatisierten ganz zu schweigen. Kinder würden von öffentlichen Strassen verbannt werden.
Dass das keine Fiktion, sondern Realität sein würde, sehen wir an ausländischen Großstädten, die den Autoverkehr einseitig bevorzugt haben und nun einen Ausweg aus der Misere suchen. Dem Auto in der Stadt so viel Platz einzuräumen wie im Volksentscheid verlangt, ist reaktionär und ein Rückfall in eine Zeit, in der man noch nicht wußte, daß der motorosierte Individualverkehr eine Sackgasse ist.
Deswegen empfehlen wir vom ADFC, auf ruhigen Nebenrouten einige Autostrassen freizugeben und außerhalb der Städte abgeschlossene Autoringe zu bauen, in denen die Autofahrer ihrem Hobby fröhnen können. Einen weiteren Ausbau von Autostrassen lehnen wir aus den oben angegebenen Gründen ab. Hat jemand noch eine Ergänzung?“ Sophie schaute in die Runde.
„Sicher. Und zwar eine, die immer zieht,“ sagte Brigitte Arndt, „nämlich die Kosten, die bei einem erhöhten Anteil von Autos am Verkehr, entstehen würden und die jeder mittragen müßte. Damit meine ich nicht nur die Kosten für Strassenbau und –erhalt, sondern auch für die Folgekosten wie Unfallopferversorgung, Frührenten, Witwenrenten, Umweltschäden, Gesundheitschäden, Kinderbetreuung und vieles mehr. Das ist wirtschaftlicher Selbstmord. Auch der Tourismus würde abnehmen. Berlin ist zum 25. Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden. Den Titel würde Berlin schnell verlieren, nähme der Autoverkehr zu.“
„Okay,“ bremste Friedhelm Brigittes Redefluss, „das ist jetzt schon mal einiges. Ich mach was draus und schicke es an alle wichtigen Medien. Wer kann noch unsere Kontakte im Senat moblisieren?“ „Darum kümmere ich mich selbst.“ Sophie nahm ihren Ordner und die Zeitung, steckte sie in ihre Tasche und stand auf. „Die Vorstandssitzung bezüglich der Etatplanung werden wir auf nächste Woche verlegen. Jetzt gibt es dringenderes zu tun…..Radelt zufällig jetzt jemand von euch auch mit der Stadtfahrradbahn Richtung Süden? Ich möchte von zu Hause weiterarbeiten.“
„Ja, ich.“ Tobias Metzler sprang auf, griff seine Jacke und eilte Sophie hinterher, die bereits den Raum verließ. Die anderen Vorstandmitglieder saßen etwas unschlüssig auf ihren Stühlen. „Tja,“ räusperte sich Friedhelm, „ dann werden wir mal… und hofffen, daß das alles nur ein Windei ist.“
Er packte seine Sachen zusammen. Das war für alle anderen das Signal zum Aufbruch und binnen kurzem war der Raum leer.
Dagmar Gericke
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